Caroline Hartge

LYRIKERIN, ÜBERSETZERIN, HERAUSGEBERIN

handreichung

zuletzt hast du
sie mir entziehen müssen

ein klatschen
mit einer einzelnen hand bin ich –
gib mir fünf!





"Chronologische Diffusion"
Gedichte 2012 – 2020
Edition Michael Kellner,
Hamburg 2023
130 Seiten, gebunden
ISBN 978-3-933444-30-1
Preis: 19,99 €

  • Inhaltsverzeichnis

    Inkl. ach lass mich doch / ach zeit / alles/gibt/antwort/et / alles ist irrtum / also haben sie dir heute … / alter garten / am allertrübsten freitag / am grab des schwarzen hundes / aufgeweckt von durst / aufschluss / böser ort / caliban / Circolo dei Forestieri (memento audere semper) / das glas wartet / das liegengebliebene liegenlassen (liegen lassen, was liegen blieb) / das motorsägenkreischen / das rauscht das braust / den schädel virenverseucht abschrauben / deponens, oder: ich verwandele mich in ein lied / dichter unterm dach / die sonne scheint / die zeit ist ein rad / dreikönigin (triole) / eben noch stand es / ein abgeschnittener kinderfingernagel / einatmen ausatmen / erden / gebet (gestammelt) / geschwister! / grenzübergang / grün grüner haselstrauch / güte / handreichung / ich tauche meine hand / ich trug einen engel / im fenster hängt / im gehen danken / im regengarten / in einem krug an der tür / ist gras mein haar / jeden morgen kommst du aus dem wald / katena / könig david in der friedensstraße / la belle indifference / lass deinen weg / lose aneinander / lose planen wehen / loslassen (ein lebenslanger lernprozess) / meer bin ich, mutter / nachts schrecke ich hoch / nein ich bin nicht zuhause / nimm nicht deine hand von mir / o neun und sechzig zu sein / phantom schmerz (dein tiqqun) / reflexion / salvatorische notate / schall / scheel sick blick / senfkorn. schattenblume / sing geh geh geh / stell das wasser ab / stille schriften, striche / tal der wale / triff mich / vogelbad / was ich weiß / wasserzeichen / wasserzeichen (keim) / wenn du etwas werden willst / wie hell war der eingang wie sonnig / wir haben hierzuland kein grab / wolken sammeln [echt bio] / zweischweif / zwischen feuer und finsternis / zwischen schwelle und tür

»Die Caroline«, so fragte mich kürzlich ein Freund am Rande seiner Buchpremiere, »schreibt die eigentlich noch?« Was für eine seltsame Frage, dachte ich. Sie ist Lyrikerin mit jeder Faser, und solange sie lebt, wird sie schreiben, wird sie sich mit Wörtern beschäftigen. Und in diesem Moment wurde mir wieder mal bewusst, dass so vieles passiert, gerade in der Literatur oder den bildenden Künsten, ohne dass es überhaupt wahrgenommen wird. Während einige Autorinnen oder Autoren in der Tagespresse und in den sozialen Medien dermaßen präsent sind, dass man pausenlos mit ihnen konfrontiert wird, während manche von ihnen ihre aktuellen Bücher mehrfach täglich posten oder facebook & Co. dafür nutzen, öffentlich Auszeichnungen einzufordern (Modell Trump: Wenn ich die Wahl nicht gewinne, dann war es Betrug), arbeiten andere unter jedem Radar. Eine von diesen seit mehreren Jahrzehnten hart an der Wahrnehmungsgrenze arbeitenden Autorinnen ist die von meinem Freund erwähnte Caroline Hartge. Während sich andere in öffentlichen Diskussionen aufreiben, zu allem eine Meinung haben und diese ebenso ungefragt wie lautstark kundtun, arbeitet Caroline Hartge beharrlich und in aller Stille an dem, was einst als ihr "Werk" bezeichnet werden wird. Das erste Gedicht von Caroline Hartge las ich 1997 in der Anthologie "Social beat, slam!poetry: die Ausserliterarische Opposition meldet sich zu Wort". Von 1998 bis heute erschienen 13 Einzelbände, und dies in überaus schöner Aufmachung und bei ambitionierten Verlagen wie Peter Engstler oder dem Buchlabor Dresden, "Asche", 2001 beim Verlag Peter Engster war dann der erste Gedichtband, den ich von ihr las und in Ausgabe 37 der Zeitschrift S.U.B.H. kurz vorstellte. In der Einleitung der damaligen Rezension ging ich auf ein freundschaftlich geführtes Geplänkel mit meinem damaligen Deutschlehrer ein, welches sich um die Frage des Unterschieds zwischen Gedichten und Lyrik drehte. Seinen Erläuterungen zufolge sei die Lyrik die (Zitat:) edelste Form des Gedichtes, welche sich nicht nur durch Ernsthaftigkeit und Bedeutungsschwere, sondern in erster Linie durch eine "lyrische" Wortwahl auszeichne. Sollten die von Herrn Förster angeführten Kriterien tatsächlich maßgeblich sein, so wären die Gedichte in Hartges neuem, Anfang 2023 bei der in Hamburg beheimateten Edition Michael Kellner erschienenen Band "Chronologische Diffusion – Gedichte 2012-2020" wohl tatsächlich Lyrik ... ernsthaft und lyrisch, das trifft schon zu, vor allem aber: wortspielerisch, wortverliebt, assoziativ, um keine Silbe verlegen und ab und zu mit religiösem Einschlag, was eventuell ihrer zeitweisen Tätigkeit als Laienpredigerin geschuldet sein mag (s . " lose aneinander" […]). Der religiöse Aspekt ist jedoch nicht so präsent, dass er einen Atheisten vom Lesen abhalten sollte. Vielmehr findet sich in vielen Gedichten, neben Märchenhaftem, ein Dialog mit unbedingt weltlichen Wesen: mit Partnern, mit Lieben und Tieren, nicht zuletzt mit sich selbst; immer getrieben von Neugier und der Bereitschaft, diese zu stillen (s. "ich tauche meine hand" […]). Gefühltes Kernstück dieses Buches und zugleich mein Lieblingsgedicht ist "tal der wale" […]. Ein hervorragendes Druckbild und die Aufmachung in schlichter Eleganz runden die harmonische Erscheinung dieses Buches ab. Ein Geschenk, wie es ein jeder Lyrikfreund nur zu gerne geschenkt bekommt – jetzt braucht es nur noch einen, der was zu feiern hat … – so beendete ich damals meine Besprechung zu "Asche", und auch zur "Chronologischen Diffusion" kann das so stehen bleiben.

(Stefan Heuer, vollständige Rezension als pdf oder in: Signaturen. Forum für autonome Poesie vom 25.04.2023)

Caroline Hartge findet ebenso treffende wie unverbrauchte Bilder, um über den Bezug vom Ich zur Welt – auch: über das Glück des rechten Abstands – leuchtend rot wie die Rücklichter eines Autos – zu schreiben. Da wird „mondlicht getrunken“ und stets mehr als eine Himmelsrichtung „zwischen giebeln und abergiebeln“ gesucht. „böse orte“ werden in der Erinnerung abgetastet, ohne dass die Hoffnung aufhört, ins Jetzt zu diffundieren. Diese Gedichte gehen einem lange nach.

(Tanja Dückers)

Caroline Hartge hat in Jahrzehnten beharrlicher Arbeit einen lyrischen Stil entwickelt, der in ihrer Generation seinesgleichen sucht. Verknappung und sinnliche Konkretheit, Melancholie und Verspieltheit, Klartext und Chiffre gehen in Caroline Hartges Schreiben eine Synthese ein, die ihre Texte von innen heraus mit einer überirdischen Klarheit leuchten lässt. Dass die präzise Magie von Caroline Hartges Texten hier erstmals in einer umfangreicheren Sammlung erfahrbar wird, ist ohne Zweifel ein Glücksfall für die deutschsprachige Literatur und diejenigen, die sie lesen.

(Gerald Fiebig)

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