Caroline Hartge

LYRIKERIN, ÜBERSETZERIN, HERAUSGEBERIN

Scherben im Gras

ganz fühlt der krug seine leere schmerzlich.

kein wind rührt an seine wandung innen kein licht reicht ihm
bis auf den grund.

erst zu bruch gegangen, zerschlagen erst.
in scherben am boden:

erst die scherben sind dem himmel aufgetan
der ganzen fülle der witterung

und wasser sammelt sich da
rein – weniger als erhofft aber

: der sonne viele kleine spiegel.
und wind streift die scharfen kanten glatt.

in scherben am boden
hört der krug das verschüttete im grund versickern

schmeckt er den mondschein trunken, trunken
fühlt er das ungeahnte gras wachsen

riecht er die heimkehrenden kühe

auf ihren hörnern … hellen traum

dunkles muhen

krug krug krug

"Wilde Brombeeren"
Gedichte
Verlag Peter Engstler, Ostheim/Rhön 2008
54 Seiten, Broschur,
16 x 22 cm
ISBN 978-3-929375-86-2
Preis: 11,- €

zu beziehen bei:
www.engstler-verlag.de

  • Inhaltsverzeichnis

    inkl. Alle morgen alles wollen / Am ufer die männer / Am wellier kolk / Anna, nel giardino degli spiriti / Axt; sand/papier / Baum III / Beim absetzen der leergetrunkenen kaffeeschale / Brief auf einem stück rinde / Das bett ist / Das licht! das licht / Das schilf, dürr / Dein herdfeuer kalt / Der fortgang eines gottes / Der singende knochen / Ein blanker schwarm möwen / Ein glück, morgens / Einander vergeben für alles / Eine schar blinkender vögel / Einen vogel rufen / Geisterne hände / Himmel am abend über den gärten / Im schwarzen mantel / In der erde gewesen / In einer menschenmenge / In ihren falten birgt die zeit schätze / In seinem ersten sommer das kind / Kassen sturz / März / Mit den augen (nicht den fingern) / Neujahrsfreude / Schalen, gefäße / Schau auf, sagt mond / Scherben im gras / Solche einfachheit / Stück für koto und schnee / Tief in der erde wird unsere geschichte wahr / Von beifahrern und gestohlenen pferden / Wilde brombeeren / Wo ein engel sachte ging

Meine Hände zwei Tauben

Caroline Hartges Lyrikband "Wilde Brombeeren"

Man könnte dieses Buch zum Anlass nehmen, mal wieder zu lamentieren: Über die Leserschaft, die zu Lyrik nur noch greift, wenn Titel wie "Die hundert schönsten Liebesgedichte" auf dem Cover steht. Über den Literaturbetrieb, der Dichtern - wenn überhaupt - nur noch aus Pflichtgefühl ab und zu mal eine Nische öffnet. Aber man kann es auch bleiben lassen. Denn lamentieren hilft nie. Lesen hilft.

Zum Beispiel die Gedichte von Caroline Hartge. Sie wurde 1966 in Hannover geboren und lebt und arbeitet in Garbsen. Seit 1987 veröffentlicht sie regelmäßig Lyrik (und Prosa) in Zeitschriften und seit 1995 hat sie sieben Gedichtbände vorgelegt. Jetzt ist der achte da: "Wilde Brombeeren".

Es sind allesamt schmale Büchlein, schlicht und klar und sorgsam gestaltet. Caroline Hartge kommt aus der Beat-Poesie, ist allen Schubladen aber längst entwachsen. Die großen Winzigkeiten des Alltags stecken in diesen Gedichten, wie etwa in "ein glück, morgens". Da heißt es: "im halben gelblicht der löffel im leergegessenen napf / zeigt ihr gesicht; am rand auf ihrer wange // die hand des kindes". Aber es geht auch immer um Gefühle und Beziehungen, und Caroline Hartge hat weder Angst vor Worten wie "Herz" noch vor der Umgangssprache: "mein herz ist ein marktplatz / eine wechselstube. da wird gebracht, getauscht & / weggetragen; ich habs nicht immer passend nur schuldig / bleib ich nichts", lesen wir in einem Gedicht mit dem schön-traurigen Titel "kassen-sturz".

Das wunderbarste an diesen Gedichten aber ist: Caroline Hartge kann Gefühle über den Text direkt in den Leser hineinpflanzen. Ihre Sprache ist so genau, dass man beispielsweise die Sehnsucht, die sich in dem Gedicht "einen vogel rufen" verbirgt, beim Lesen auf halszuschnürende Weise selbst spürt: "meine hände zwei tauben aus schnee / fallen dir an den hals / auf deine schultern und trinken / die schlüsselbeinschalen leer", heißt es am Anfang. Später kommen die Zeilen: "wie lange bis ich endlich tot bin / und nur tot genug / ich läge in den hügeln hinterm haus / unterm kirchlein das die stunden sagt". Und schließlich: "denn ach es sind meine hände / nur zwei bleiche vögel gerupft und gänsehäutig / in meinem ausgegangenen schoß / am andern morgen".

Es fordert tausendfache Übung und viel Zeit, um eine so eigene Sprache auszubilden. Caroline Hartge hat sich ihre eigene Sprache erarbeitet. Und das macht das neue Buch ebenso lesenswert und lesenswichtig wie ihre früheren (die noch zu haben sind), besonders die Bände "Schilf" und "Asche".

(Bert Strebe, Hannoversche Allgemeine Zeitung vom 6.5.2008)

In den Falten der Zeit

Zu Caroline Hartges Gedichtband "Wilde Brombeeren"

Um es vorneweg zu sagen: an diesen Gedichtband gehört ein Warnhinweis. Ein Aufkleber etwa: "Vorsicht, Anti-Avantgarde!" Oder eine Banderole: "Naturbetrachtung durchs Fenster einer Zeitmaschine".

Denn Caroline Hartges Gedichte verzichten auf so ziemlich alles, was heutzutage - in durch Tempo und Urbanität geprägter Zeit - als angemessener Sprachgestus gilt, sie begeben sich weitgehend der Brechung von Natureindrücken durch Accessoires aus Wissenschaft und Technik, sie diskutieren keine Wahrnehmungsmuster, sie überlassen das Feld formal-experimenteller Neulandgewinnung anderen. Darüber kann man enttäuscht sein - oder aber sich einlassen auf die sonderbar klingenden Gedichte und ihr lyrisches Ich, das mit der Gegenwart zu fremdeln scheint, als hätte es sich durch einen Knick der Zeit ins Hier und Jetzt verlaufen.

Dieses lyrische Ich scheint mit ferneren Erinnerungen als solchen an das vergangene Jahrhundert ausgestattet zu sein, und mit einem Vokabular, das seine dinghaften und situativen Entsprechungen im beginnenden 21. Jahrhundert nur noch in Museen oder Filmen, in anderen Kunstwerken also, wiederfindet. Ein Faktum allerdings, das der Autorin und ihren lyrischen Personen klar bewusst ist: "(...) hier kann man keine bilder malen ohne zu stehlen", heißt es in Anna, giardino degli spiriti, einem Gedicht, das den Vornamen der Dichterin Anna Ruchat im Titel trägt, die Texte von Caroline Hartge ins Italienische übertragen hat. In seiner beinahe privaten Tonlage spricht dieses Gedicht jedoch die Situation der Nachfahren an - und des Nachfahrens jeglichen Übersetzens, auch des Übersetzens aus dem Gestern ins Jetzt: "hier sind die freunde alle schon zuvor / gewesen."

Was ist das für ein Hier? Eines, in dem auf sanfte Weise gewildert wird, ein Ort wie ein Hort, in dem museale Gegenstände wie "schwerter", "kelche" und "hexenholz" weder aus der Vergangenheit heraus noch in die Gegenwart hinein transponiert werden, sondern eher in eine Spur neben der Zeit, kein geschichtlicher, sondern ein Geschichtenort.

Geschichten, zumal in ihren liedhaften Verkürzungen und Zuspitzungen, sind des öfteren die Vehikel, in denen die Themen Liebe, Verlust und Natur in die Gedichte kommen, zum Beispiel in der singende knochen. Man erinnert sich an das Märchen gleichen Titels, worin durch eine Knochenflöte ein Mord offenbar und der Mörder überführt wird, aber diese Motive werden in dem Gedicht nicht wiederaufgenommen, sondern die Kenntnis des Märchens, sofern sie überhaupt vorausgesetzt wird, dient lediglich als Grundierung, als Drohkulisse, vor deren Hintergrund sich Sinistres abspielt: "das messer schmerzt über die kehle gezogen nicht aber blut // geht so schwer raus", konstatieren die Schlussverse, und nun ist man doch froh, das Märchen zu kennen, aus der Kindheit, als man dort den vorgesetzten Mord und Totschlag noch in einer schlichten, aber überaus beruhigenden Aug-um-Aug-Facon gesühnt sah. Ist es das, was von "der gewaschenen zeit" bleibt, von "der mitgewaschenen zeit / versehentlich bei 60° mit handtuch und servietten"?

Der ironischen Frage des Gedichts setzt Hartge den Traum entgegen: nichts bleibt "außer tau & rost" oder an späterer Stelle "rausch & flügel", man geht wie das lyrische Ich "mit leeren händen hinein" ins Leben und "mit leeren händen (...) auch wieder hinaus". Gleichwohl rettet einen das Gedicht aus dieser Binsenweisheit eben durch die titelgebende Richtung, dorthin, wo es keineswegs ältlich abgeklärt zugeht, sondern recht deutlich hörbar nach Offenbarwerden der immergleichen Verbrechen gerufen wird.

[…]

(Sylvia Geist in: 'horen' Nr. 233 1. Quartal 2009/54. Jahrgang )

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