Caroline Hartge

LYRIKERIN, ÜBERSETZERIN, HERAUSGEBERIN

Live the life you love
Love the life you live

Eins

In der Neujahrsnacht hatte es zu schneien begonnen.

Die Verwandlung hatte leise stattgefunden, kaum merklich. Erik bemerkte sie am ersten Morgen des neuen Jahres mit Kummer. Das verlorene Geräusch von Schaufelblättern auf dem Pflaster klang in seinen Ohren nicht fröhlich; das weiße Schweigen und die Reinheit des Schnees kamen ihm wie hämische Persiflagen auf das neue Jahr vor: unberührt, unbeschmutzt. Aber etwas so Weißes, so Makelloses mußte zwangsläufig befleckt und besudelt werden; die heimlichen Hoffnungen würden unerbittlich zunichte gemacht werden, dagegen konnte man nichts tun. Erik war deshalb niemand willkommen, der die leuchtende Fläche auf dem Weg zu ihm zertrat; und als er den portugiesischen Hausmeister im Hof schneeschippen sah, stimmte ihn der Anblick melancholisch. Unwillkürlich gedachte er des Todes - als habe er einem Totengräber bei der Arbeit zugesehen.

[…]

"Ptolemaïn / Die
Narrative Maschine"
zwei Erzählungen
Buchlabor, Dresden 1995
142 Seiten, geb.
mit Schutzumschlag
14 x 21,5 cm
ISBN
Preis:

zu beziehen bei:
Dirk Fröhlich
Prießnitzstr. 19
01099 Dresden

Glückliche Ruinen

oder Caroline Hartge korrespondiert aus Butte-des-Morts

Bele scheint noch sehr jung, fast noch ein Kind, jedenfalls nach der Art geurteilt, wie man sie im Krankenhaus behandelt. [...] – doch wie der Leser Bele während ihrer Krankenhausbehandlung quasi über die Schultern blickt, dämmerts ihm allmählich, und zwar nach und nach, daß sie drogenabhängig ist. Die Droge ist fiktiv und heißt ‚Ptolemaïn’ und der Ort, an dem die Geschichte spielt, Butte-des-Morts, eine surreale, düstere Ruinenlandschaft. Aber von der psychedelischen Aura einer vergifteten Heimat, mit den Geistern auf du und du, und doch eigentümlich gebremst, zurückgehalten, wie durch den Schleier sanfter Halluzinationen. Es wärmt, es umgibt einen, es gibt einem das Gefühl von Zuhause – aber es ist giftig. Eine vergiftete Muttermilch, wie Drogensucht in der psychoanalytischen Theorie symbolisiert wird. […]

(Thomas Nöske in: Der ewige Unterstrom April 2001; www.ewigerunterstrom.de)

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